Landbesetzungen, Rebellionen gegen postkoloniale Regime, Arbeiterinnenproteste in Weltmarktfabriken - die Formen, in denen sich heute in Ländern des Südens sozialer Protest äußert, sind sehr vielfältig. Nach dem Niedergang des Realsozialismus haben sich die Strategien und Utopien zur Überwindung kolonialer Abhängigkeit und kapitalistischer Ausbeutung ebenso geändert wie die politischen und ökonomischen Eckpfeiler der Weltordnung. Das Scheitern der Idee von der nationalen Befreiung stellt heutige soziale Bewegungen vor die Frage, wie sie ihr Verhältnis zum Machterwerb und zu nationaler oder ethnisierter Identität gestalten sollen.
Von der gruppe demontage, August 2001
Jahrzehntelang war der sowjetische Weg des ”Sozialismus in
einem Land” zugleich Modell und Bedingung der antikolonialen sozialistischen
Bewegungen in den Ländern des Südens. Die aufstrebenden
Unabhängikeitsbewegungen konnten darauf hoffen, nach einem Sieg in den Ostblock
eingebunden zu werden und nach sowjetischem Vorbild ihre Wirtschaft zu
entwickeln. Darum organisierten sich im Trikont soziale Bewegungen vielfach als
nationale Befreiungsbewegung und sahen die Eroberung der Staatsmacht als Schlüssel
zum Erfolg. Da diese meist nicht freiwillig von der Kolonialmacht oder ihrer
Statthalter aus der lokalen Bourgeoisie aus der Hand gegeben wurde, kam den
bewaffneten Guerillas eine zentrale Bedeutung zu. Deren militärischer Apparat
begriff sich meist als Staat im Wartestand und übernahm mit der militärischen
auch die soziale und politische Kontrolle über das zu befreiende Gebiet. Im
günstigsten Fall wurde diese dazu genutzt, die sozialen Verhältnisse zum
Beispiel im Bereich der Landverteilung zu verbessern und die Selbstorganisation
der Bevölkerung voranzutreiben. Oftmals wurden diese Vorhaben jedoch auf die
Zeit nach der siegreichen Revolution oder gar nach dem ”Aufholen” der
wirtschaftlichen Entwicklung vertagt.
Sowohl die Kolonialregimes als auch die Regierungen der
unabhängigen Staaten waren oft als brutale Militärdiktaturen organisiert und
ließen wenig Raum für soziale Bewegungen. Der Rückzug als Guerilla in
unzugängliche Regionen des Landes, beispielsweise in El Salvador, war die
einzige Überlebenschance für aufsässige BäuerInnen, GewerkschafterInnen und
StudentInnen. Auch in Mexiko zogen sich nach dem Massaker an oppositionellen
StudentInnen von 1968 viele auf das Land zurück und bildeten dort mit in die
Illegalität gedrängten LandarbeiterInnen Guerillagruppen. Die bewaffneten
Gruppen waren in unterschiedlichem Maße immer auch mit zivilen Bewegungen und
Parteien verbunden.
Zeitgleich mit dem kapitalistischen fordistischen
Regulationsmodell geriet auch der sowjetische Entwicklungsweg Anfang der 70er
Jahre in die Krise. Während es den kapitalistischen Metropolen gelang, durch
die Umwandlung der Nationalstaaten in neoliberal ausgerichtete ”nationale
Wettbewerbsstaaten” einen neuen ökonomischen Schub zu erlangen, sah sich die
Sowjetunion unter dem Druck des Westens zur Selbstauflösung gezwungen. Das
ökonomische Modell war zu sehr mit der staatlichen Ideologie verbunden, um
kurzerhand geändert werden zu können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnten
nationale Befreiungsbewegungen im Falle ihres Sieges nicht mehr auf die
Integration in den Weltmarkt hoffen. Das eine Wirtschaftssystem ist
verschwunden, das andere hat es nicht mehr nötig, im Rahmen der
Blockkonfrontation Zugeständnisse zu machen. Zudem steht der Weltmarkt der
”neuen Weltordnung” unter veränderten Vorzeichen: Nicht die Einbindung von
Nationalökonomien über den Warenaustausch ist das bestimmende Moment, sondern
die wirtschaftliche Integration als Standort einer globalisierten Produktion.
Und nicht zuletzt ist der mehr oder weniger direkte militärische Rückhalt durch
die Sowjetunion weggefallen.
Die Reaktionen nationaler Befreiungsbewegungen auf die
veränderte Situation lassen sich in drei Strömungen unterteilen: Eine
völkisch-ethnizistische Tendenz, welche emanzipatorische Forderungen Stück für
Stück aufgibt, um im Standortwettbewerb möglichst viele Vorteile für das eigene
“Volk” herauszuholen. Beispielhaft dafür stehen die Entwicklung der kurdischen
PKK, der korsischen Befreiungsbewegung und der baskischen
Unabhängigkeitsbewegung. Eine republikanische Tendenz will zunächst die formale
bürgerliche Gleichheit durchsetzen, um auf dieser Grundlage weitergehende
soziale Projekte umzusetzen. Sie schwankt zwischen nostalgischem Einfordern des
fordistischen Sozialstaats und Akzeptanz der neuen (neoliberalen) Spielregeln
unter Beibehaltung des Gleichheitsanspruchs. Auch hierbei geraten soziale
Forderungen zunehmend unter Druck, wie die Entwicklung der irischen IRA und des
südafrikanischen ANC bezeugen. Eine dritte sozialistische Strömung stellt die
sozialen Forderungen in den Vordergrund und den Nutzen der Eroberung der
Staatsmacht in Frage. Basisdemokratische, antirassistische und antipatriarchale
Strukturen sowie konkrete Verbesserungen der Überlebensbedingungen sind der
Maßstab ihres Erfolges. Die EZLN in Chiapas ist das wohl bekannteste Beispiel
dafür.
Als 1985 die führenden Mitglieder der uruguayischen Guerilla
Tupamaros nach 13 Jahren Kerker frei kamen und eine legale Organisation
bildeten, verkündete einer von ihnen, sie hätten viel zu spät begriffen, dass
sie zur Hochzeit ihres bewaffneten Kampfes Anfang der 70er Jahre eigentlich
schon ”gesiegt” hatten. Gemeint war, dass die Tupamaros mit ihren sozialen
Forderungen eine gesellschaftliche Resonanz erreicht hatten, die sie in der
darauffolgenden Dynamik von Guerillaaktion und staatlicher Repression nur
verlieren konnten. Die erste Kampagne der neuformierten Organisation war daher
der Gang in die Stadtteile, um mit der Bevölkerung über die Aktionen der 70er
Jahre und die aktuelle politische Situation zu diskutieren.
Auch die Tragweite einer Eroberung der Staatsmacht stellten
die (Ex-)Tupamaros in Frage. So überlegten sie, welchen Handlungsspielraum das
linke Wahlbündnis Frente Amplio (dessen Teil sie sind) hätte, wenn es tatsächlich
die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde. Dies blieb auf landesweiter Ebene
eine theoretische Frage, praktisch wurde sie aber bald im Falle der
Stadtregierung von Montevideo. Nachdem die Frente Amplio hier die Mehrheit
errungen hatte, war eine der Strategien im Umgang mit dem engen politischen
Handlungsrahmen, diesen zumindest so transparent wie möglich zu gestalten. Ihr
Projekt, städtische Entscheidungsgewalt an Stadtteilräte zu delegieren und
damit deren Grenzen erfahrbar zu machen, wurde von der Gegenseite nicht umsonst
mit am schärfsten bekämpft.
Mit einem ähnlich kritischen Verhältnis zur Staatsmacht
wurden knapp zehn Jahre später die Zapatistas im Süden Mexikos bekannt. Mit der
Macht ihrer Gewehre verschafften sie sich Gehör und öffneten einen Raum für
soziale Kämpfe, der weit über das Gebiet ihres militärischen Einflusses hinaus
in die mexikanische Gesellschaft und in die Linke weltweit hinein wirkt. Die
Zapatistas sind zu einem Kristallisationspunkt der entscheidenden Fragen
geworden, denen sich soziale Bewegungen stellen müssen, sofern sie einen
emanzipativen Charakter haben (wollen) - egal, ob sie mit oder ohne Waffen
kämpfen.
Die antiherrschaftliche Politik der Zapatistas richtet sich
sowohl gegen den Aufbau eines Machtzentrums innerhalb der eigenen Organisation
EZLN als auch gegen die Illusion der Eroberung des Machtzentrums der
Gegenseite, um dieses als Träger eines emanzipativen Prozesses umfunktionieren
zu können. Diesem Ansatz sind jedoch enge Grenzen gesetzt: Massaker wie das von
Acteal, aber auch Vorhaben wie der ”Plan Puebla-Panama” sind Versatzstücke
eines schmutzigen Krieges, wie er in den 70er Jahren in den USA zur
Aufstandsbekämpfung konzipiert wurde. Militärische Drohung geht darin mit
regionaler Entwicklung und ideologischer Propagandaarbeit Hand in Hand. Egal
was die Zapatistas dazu denken, die Gegenseite stellt die Machtfrage ständig.
Der Wahlsieg von Vicente Fox im letzen Jahr ist ein weiterer Schritt im Anfang
der 80er Jahre eingeleiteten Umbau Mexikos zum formal-demokratischen
Wettbewerbsstaat. Die Zunahme formal-bürgerlicher Rechte in Mexiko hat bislang
nichts an den Mechanismen rassistischer Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit
geändert. Der scheinbare Fortschritt aber hat die Forderung der EZLN nach
Gewährung materiell unterfütterter demokratischer Rechte erheblich erschwert.
Auch in Ecuador wurde das Verhältnis einer heutige soziale
Bewegung zu Staat, die sich von vornherein nicht als nationale
Befreiungsbewegung konstituiert hatte, auf die Probe gestellt. Im Januar 2000
mündeten die Proteste gegen die Dollarisierung der Wirtschaft und die
neoliberale Politik der Regierung in einen Aufstand. Träger war vor allem die
Organisation der indigenisierten Bevölkerungsteile in Ecuador, die CONAIE (Confederación
de Nacionalidades Indígenas del Ecuador). Sie entstand 1986 als Zusammenschluß
der Organisationen indigenisierter Gruppen aus dem ecuadorianischen Hoch- und
Tiefland. Während zu Beginn kulturell-ethnisierte Fragen im Vordergrund
standen, gewannen im Laufe der neunziger Jahre soziale Themen an Bedeutung. Die
CONAIE unterstützte 1996 im Präsidentschaftswahlkampf den
Mitte-Links-Kandidaten und kandidierte zudem - wenn auch nicht unumstritten -
mit einem eigenen parteipolitischen Ableger namens Pachakutuk-Nuevo País, der
seitdem im Parlament vertreten ist.
Im Januar letzten Jahres rückte die Umsetzung ihrer
Forderungen für die CONAIE in greifbare Nähe. Zusammen mit kleineren linken
Gruppierungen und Teilen des Militärs stürmte sie das Parlament und setzte eine
provisorische Junta ein. Durch die Intervention der Armee wurde jedoch die
Junta abgesetzt und der ehemalige Vizepräsident zum Präsidenten ernannt. In
dieser Situation war die CONAIE völlig überraschend mit der Frage der
Machtübernahme konfrontiert. Daran wird deutlich, dass auch Bewegungen wie die
CONAIE, die trotz ihres widersprüchlichen Charakters am ehesten als
Reformbündnis charakterisiert werden kann, längerfristig um eine
Auseinandersetzung mit der Machtfrage nicht herumkommen. Für einen grundlegenden
Wandel müssen die alten Machtapparate zerschlagen werden, was auch eine
zwischenzeitliche Eroberung bedeuten kann. Die reale Entwicklung nicht nur der
CONAIE - zeigt jedoch die Grenzen sozialer Bewegungen auf, die sich auf die
Durchsetzung bürgerlicher Rechte und auf politische und ökonomische
Partizipation orientieren. Die Durchsetzung bürgerlicher Gleichheit würde für
einen Großteil der Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensbedingungen
bedeuten. Dennoch bleibt dieser Kampf, solange er allein auf gerechtere
Distribution zielt, auf eine reformistische Perspektive beschränkt.
Die Frage nach der Beteiligung an der Macht dreht sich nicht
nur um die Übernahme der (Staats-)Macht, sondern in heutigen Zeiten auch um die
mehr oder minder subtile Einbindung in Regierungshandeln. Ein zunehmend
größerer Teil der Regulationsprozesse wird privatisiert und unter anderem an
Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) delegiert. Die Dynamik der Integration
zivilgesellschaftlicher Organisationen in den Herrschaftsapparat zeigt sich
beispielsweise am Umgang peruanischer Frauengruppen mit dem staatlichen
Sterilisierungsprogramm der Regierung Fujimori in den 90ern. (Bitte Fußnote mit
Literaturhinweis einfügen) Zwischen 1996 und 1998 fand in Peru eine
Sterilisationskampagne statt, in deren Rahmen 200.000 bis 300.000 Personen
(davon etwa 90 Prozent Frauen) sterilisiert wurden. Erreicht wurde dies mit
einer Mischung aus Lockangeboten wie kostenloser Zahnbehandlung oder
Haarschnitt und Androhungen, bei Verweigerung als Subversive behandelt zu
werden sowie keine Lebensmittel und keine Gesundheitsversorgung mehr zu
bekommen. Die großen feministischen NGOs in Lima - insbesondere die
Organisationen Manuela Ramos und Flora Tristan -, die schon seit Ende der
siebziger Jahre zum Thema reproduktive Gesundheit gearbeitet hatten,
protestierten überraschenderweise nicht dagegen. Im Gegenteil: In der Hochphase
der Zwangssterilisationen traten sie einer von staatlicher Seite initiierten
Kommission bei, um die ‚reproduktive Gesundheitspolitik‘ in Peru zu
koordinieren. Damit legitimierten sie nicht nur das staatliche Programm, sie
lobten es sogar auf internationalen Konferenzen. Erst 1998 distanzierten sie
sich aufgrund internationaler Proteste halbherzig von dem Regierungsprogramm.
Dieses Verhalten ist mit zwei Aspekten zu erklären. Zum
einen befürchteten die Frauen-NGOs, mit einer Kritik des Programms der Kirche
in die Hände zu spielen, die grundsätzlich gegen jede Form der Verhütung
agitiert. Dieses Teilinteresse ließ sie die Augen vor den sonstigen Folgen des
Programms verschließen. Zum anderen erreichten Frauenorganisationen auf der
UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994, einige Regeln für
Bevölkerungsprogramme durchzusetzen, die zum Beispiel Prämien und feste Quoten
untersagen. Damit verbunden setzte sich eine Strategie der ”partnership” unter
Frauen-NGOs durch, die vor allem durch das informelle Netzwerk HERA vertreten
wurden, an dem auch die beiden großen peruanischen Frauen-NGOs beteiligt sind.
Diese Einbindung in die Politik setzt die Frauen-NGOs einerseits unter
Erfolgsdruck und lockt andererseits mit Geld und Einfluss. So entdeckte Manuela
Ramos angesichts einer Zuwendung von 5 Millionen US-Dollar für ein
Frauengesundheitsprojekt ihre Sympathie für die für ihre Praktiken berüchtigte
amerikanische Entwicklungsagentur US-AID: Nach Kairo zeige dessen Personal
”eine hohe Sensibilität für Geschlechterverhältnisse und Frauenrechte”.
Identitätspolitik als Emanzipationsfalle
Neben dem Verhältnis zur Macht und zum Staat ist für soziale
Bewegungen das Thema Identitätspolitik also die eigene politische und soziale
Verortung als religiöse, ethnische oder anderweitig definierte
Bevölkerungsgruppe - ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt ihres
Selbstverständnisses. Schon bei den klassischen Befreiungsbewegungen der
antikolonialen Phase spielte Identitätspolitik eine wichtige Rolle und hatte
weitreichende Auswirkung für die gesellschaftliche Orientierung der
postkolonialen Staaten. Mit ihrem Weg des ”islamischen Sozialismus” überließ
beispielsweise die algerische Befreiungsbewegung FLN nach der Machtübernahme
1962 große Teile des kulturellen Bereichs den alten religiösen Eliten mit ihren
traditionellen Vorstellungen. Die Einführung von Hocharabisch als Landessprache
hintertrieb die Bemühungen um eine Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung
und grenzte große Teile der nichtarabischen Gruppen, etwa in der Kabylei, aus.
Die islamistischen Kräfte, denen die arabische Identitätspolitik insbesondere
in religiöser Hinsicht nicht weit genug ging, nutzten die Verschlechterung der
Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung in Folge der ökonomischen
Krise seit den 80er Jahren aus. In dem Maß, in dem der Staat unter dem
Schuldendiktat des IWF seine Sozialleistungen abgebaut hat, besetzten die
Islamisten den sozialpolitischen Bereich, beispielsweise mit Volksküchen.
Umso auffallender ist, dass die seit diesem Jahr verstärkt
gegen das algerische Regime und die Islamisten rebellierenden Jugendlichen aus
der Kabylei sich nicht auf ihre Identität als marginalisierte Minderheit
zurückziehen. Trotz der sprachlichen und religiösen Differenzen zum Rest
Algeriens spielen diese keine Rolle, obwohl die Regierung sie als “Berber” in
die Ecke einer ethnisierten Gruppe mit Partikularinteressen drängen will und
die Islamisten sie mit Gewalt, die bis hin zu Massakern reicht, bedrohen.
Stattdessen fordern die als soziale Bewegung organisierten Rebellierenden
sowohl ein Ende der Diskriminierung von Minderheiten als die Verbesserung der
sozialen Lage der verarmten Bevölkerung insgesamt.
Der Kampf gegen die Ausgrenzung beträchtlicher Teile der
Bevölkerung aus der Dominanzgesellschaft nimmt auch eine zentrale Position in
der Politik der ecuadorianischen CONAIE ein. Die Forderungen der Bewegung
erschöpfen sich jedoch nicht darin. Auf die Frage nach den konkreten
Forderungen bei den Verhandlungen mit der Regierung des Präsidenten Gustavo
Noboa sagte Antonio Vargas, Vorsitzender der CONAIE: ”Soziale
Entwicklungsprogramme für die indigenen Gemeinschaften, kostenlose
Gesundheitsversorgung und Schulbildung. Als nächsten Schritt wollen wir mit
Noboa über Privatisierung diskutieren, die Auslandsverschuldung und über die
Militärbasis Manta, wo die Amerikaner stationiert sind. Und natürlich auch über
ein neues solidarisches und soziales Wirtschaftsmodell und über mehr Autonomie
für die einzelnen Regionen.” Damit steht die CONAIE für eine Bewegung von
Indigenisierten, die ihren Kampf bislang überwiegend in sozialen Kategorien
bestimmt.
Die verstärkte Orientierung auf ethnisierte Identitäten ist
die Kehrseite einer Politik sozialer Desintegration - insbesondere dort, wo
Forderungen nach Antidiskriminierung und Integration in die
Dominanzgesellschaft ins Leere laufen. Am Beispiel der Bewegung von
Indigenisierten und KleinbäuerInnen um Felipe Quispe in Bolivien wird deutlich,
wie ethnische Identitätspolitik in einer Weise zum zentralen Ansatz werden
kann, dass soziale Aspekte vollständig in den Hintergrund gedrängt werden. Die
von Felipe Quispe gegründete Partei MIP (Movimiento Indígena Pachakuti) steht
durch ihre rassistische, auf die Gruppe der Aymara ausgerichtete
Identitätspolitik einer gemeinsamen Organisierung aller Indigenisierten und
KleinbäuerInnen im Weg. (Könnt ihr das ein kleines bisschen näher ausführen? Ist
sehr knapp)
Ergänzung von Moritz: So war auf einem unter Federführung
von Quispe organisierten bolivienweiten Treffen der Gewerkschaften der
KleinbäuerInnen Anfang dieses Jahres (??) die einzige Konferenzsprache Aymara.
Die Quechuasprechenden Campesinos waren hierdurch ebenso wie die
Spanischsprachigen aus einigen Regionen sowie aus städtischen Organisationen
faktisch ausgeschlossen. Das stand und steht der landesweiten Verständigung
über den weiteren Kampf gegen die Privatisierungen und den Sozialabbau seitens
der Regierung im Wege. Eine emanzipatorische Aufhebungsbewegung der extrem
rassistischen Gesellschaftsstruktur Boliviens wird so behindert.
Der internationale Boom der Weltmarktfabriken ist ein
wichtiger Bestandteil des Umbruchs von fordistischen zu postfordistischen
Regulationsformen. Die ökonomischen und politischen Umbrüche nach dem Ende des
Fordismus haben nicht nur eine weltweite Renaissance ethnisierender und
religiöser Identitätspolitik ausgelöst, sondern auch Geschlechterverhältnisse
verändert und damit auch den Umgang sozialer Bewegungen mit ihnen. Deutlich
wird dies am Beispiel El Salvador. Etwa ein Drittel der Exportbetriebe dieses
mittelamerikanischen Landes sind mittlerweile als Weltmarktfabriken, sogenannte
Maquiladoras, organisiert. Über 50.000 Frauen stellen in ihnen aus Asien
stammende Textil-Halbfertigprodukte für den US-amerikanischen Markt fertig. Die
Arbeitsorganisation in den auch arbeitsrechtlich deregulierten Betrieben der
Freihandelszonen in El Salvador, Honduras, Nicaragua und Mexiko unterliegt
einem extremen Ausbeutungssystem, in dem die Unterschreitung von Mindestlöhnen
ebenso die Regel ist wie die Nichtentlohnung von Überstunden, sexuelle
Übergriffe, regelmäßige Schwangerschaftstests oder die Weigerung, Frauen im
Krankheitsfall Zeit für einen Arztbesuch zur Verfügung zu stellen.
Diese Bedingungen sind zum Ausgangspunkt von Bewegungen und
Organisationen geworden, die sich für Fraueninteressen einsetzen. Ihnen geht es
jedoch keineswegs immer nur um den Kampf gegen die kapitalistischen Ausbeuter,
sondern auch gegen die eigenen Genossen. In El Salvador machte vor allem die
Frauenorganisation Movimiento Melida Anaya Montes (MAM) von sich Reden, die
bereits in den achtziger Jahren von Mitgliedern der mehrheitlich sozialistisch
orientierten FMLN-Guerilla (Frente Farabundo Martí de Liberación National)
aufgebaut worden ist. Seit den neunziger Jahren kämpft die MAM schwerpunktmäßig
gegen die unmenschlichen Arbeitsverhältnisse von Frauen in den Maquiladoras.
1995 spielte sie eine herausragende Rolle im ersten Arbeitskampf in einem
Maquila-Unternehmen in El Salvador, der Empresa Mandarin.
In der FMLN sind geschlechtspezifische Forderungen von
Frauenorganisationen lange Zeit als Nebenwiderspruch abgetan worden.
Mittlerweile ist eine Quotenregelung durchgesetzt worden, nach der die höchsten
Parteigremien zu 30% mit Frauen besetzt sein müssen. Nach Schilderungen von
Lorena Pena, seit 1994 Parlamentsabgeordnete der FMLN und Gründungsmitglied der
MAM, nahmen auch linke Gewerkschaftsvertreter die Arbeit der Organisation lange
nicht ernst. Seit Mitte der neunziger Jahre kommen nun auch die Gewerkschaften
um eine Anerkennung der Arbeit von MAM nicht mehr herum.
In Nicaragua arbeiten über 24.000 Menschen in 38
Maquiladoras; über 80% der Beschäftigten sind Frauen. Auch hier wurde die
Organisierung von Frauen lange Zeit als Nebenschauplatz abgetan, wenn sich ihre
Arbeit gegen die Ausbeutungsverhältnisse in den Maquilas und die
Standortpolitik der früheren sandinistischen Guerilla und heutigen
Oppositionspartei FSLN richtete.
Ähnlich wie alle sozialen Bewegungen sind jedoch auch die
Frauenorganisationen nicht vor der Einbindung in hegemoniale Denk- und
Argumentationsmuster gefeit. Im Mai letzten Jahres erregte der Streik der
ArbeiterInnen des Textilherstellers Chentex im Rahmen der Lohnverhandlungen
zwischen der Gewerkschaft der TextilarbeiterInnen CST und der
Unternehmensleitung großes Aufsehen. Die Drohung der Unternehmensleitung,
Arbeitsplätze abzubauen oder Chentex ganz zu schließen, hat im letzen Jahr zu
internationalem Protest und Boykottaufrufen in den USA geführt. Die
Frauenorganisation Maria Elena Cuadra, die Arbeiterinnen aus Maquilas
organisiert, wendete sich gegen die Arbeitskämpfe. Sie macht den Boykott gegen
die Textilproduktion für die Schließung von Unternehmen verantwortlich. Zwar
seien die Forderungen der Gewerkschaften richtig, Boykottaufrufe seien jedoch
der falsche Weg, da sie Arbeitsplätze gefährdeten. Maria Elena Cuadra scheint
die neoliberale Politik der FSLN-Führung, die gute Verwertungsbedingungen für
Unternehmen über die Arbeitsbedingungen von Frauen in Maquilas stellt, auch zur
ihren gemacht zu haben.
Diejenigen Frauenorganisationen jedoch, die sich nicht nur
gegen die besonderen Ausbeutungsverhältnisse von Frauen in lateinamerikanischen
Maquiladoras stellen, sondern diese Produktionszonen als sichtbaren Ausdruck
neoliberaler Globalisierung grundsätzlich in Frage stellen, verbinden eine
geschlechtspezifische und eine antikapitalistische Perspektive linker Politik.
Ob ihre Arbeit in den nächsten Jahren aufgrund des fortschreitenden
neoliberalen Umbaus lateinamerikanischer Staaten noch an Bedeutung gewinnt, ist
eine derzeit noch offene Frage.
Was bedeuten die Veränderungsprozesse sozialer Bewegungen
für hiesige Solidaritätsbewegungen? Das (unkritische) Setzen auf soziale
Bewegungen, die keine Ambitionen auf eine staatliche Machtübernahme hegen, löst
die in der Vergangenheit bei nationalen Befreiungsbewegungen zu Tage getretenen
Probleme nicht. Nötig ist vielmehr ein differenzierter Blick auf die
Programmatik und Praxis sozialer Bewegungen. Finden sich etwa in Bezug auf die
sozialen Forderungen der CONAIE in Ecuador Anknüpfungspunkte für kritische
Solidarität, ist dies bei der nahezu ausschließlich Identitätspolitik
betreibenden MIP in Bolivien kaum noch möglich. Das Beispiel von
Frauenorganisationen und ihrer Kritik am Maquila-System zeigt, dass es zwar
Anknüpfungsmöglichkeiten an ihre antikapitalistischen und geschlechtspezifischen
Forderungen gibt, aber kritische solidarische Diskussionen über die jeweiligen
politischen Ansätze nötig sind.
Das weitgehende Scheitern nationaler Befreiungsbewegungen
verdeutlicht, dass Widerstand und linke Politik über den nationalen Rahmen
hinausweisen, aber auch aus den lokalen und regionalen Gegebenheiten
hervorgehen und sich darin und in ihrem grenzüberschreitenden Charakter
reflektieren müssen. Unsere Vorstellung von kritischer Solidarität haben wir im
Buch “Postfordistische Guerrilla” als “kosmopolitischen Kommunismus”
bezeichnet. Eine umfassende soziale Befreiung setzt einen antiherrschaftlichen
Kampf gegen alle Unterdrückungsverhältnisse voraus, in dem keine Zugeständnisse
an volkstümelnde oder andere partikularistische Interessen gemacht werden.
Kommunistische Vergesellschaftung bedeutet gleichwohl noch mehr als die
Abwesenheit von Herrschaft und Identitäten: Sie erwächst auf der Grundlage der
Freiheit der Einzelnen. Dies missachtet zu haben, ist das größte Defizit vieler
Befreiungsbewegungen.