Weder im bürgerlichen noch im linken historischen Bewusstsein spielt der 9. August 2007 eine Rolle. An diesem Tag brach, beginnend in den USA, der sogenannte Interbankenmarkt zusammen. Die Banken hörten schlagartig auf, sich untereinander Geld zu leihen. Grund war das Umschlagen des Immobilien- und Hypothekenbooms in den USA in ein allgemeines Misstrauen, ob die jeweiligen Finanzinstitute bei einem möglichen Ausfall eines Teils ihrer Schuldner selbst überleben würden. Über Nacht sprang die staatliche amerikanische Notenbank ein und versorgte von da an selbst die Banken mit der notwendigen Liquidität, damit diese ihre Geschäfte fortsetzen konnten. Von diesem Zeitpunkt an gab es beim Hegemon des globalen Kapitalismus und auch über die USA hinaus keinen privaten Finanzmarkt mehr.
Die bürgerliche Politik und
Öffentlichkeit – einschließlich Finanzpresse und -wissenschaft – nahm die Krise
erst im September 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehmann Brothers
in den USA in aller Schärfe wahr. Dies war der Endpunkt der Auseinandersetzung
innerhalb der herrschenden Klasse, ob diejenigen Segmente des Finanzsektors,
die sich verspekuliert hatten, auch den Preis der Marktlogik dafür zu zahlen
hätten, nämlich pleite zu gehen. Nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers
fürchteten die OECD Regierungen weitere Pleiten sogenannter systemrelevanter
Banken. Um Zusammenbrüche weiterer Banken (die sich alle untereinander Geld
geliehen bzw. sich wechselseitig an Spekulationsvehikeln beteiligt hatten) zu
vermeiden, wurde kurzerhand der Markt durch den Staat ersetzt. Weitere
Bankenpleiten hätten global zu einem Run auf die Spareinlagen geführt, die von
den Banken, wenn alle Sparer_innen ihre Ansprüche gleichzeitig geltend gemacht
hätten, nicht hätten bedient werden können, da sich die Banken mit ihren
weltweiten spekulativen Investments überwiegend mittel- bis langfristig
gebunden hatten. In der Konsequenz wäre innerhalb weniger Tage der gesamte
Bankensektor zusammengebrochen. Damit wäre auch der allgemeine Geldkreislauf
außer Funktion gesetzt worden (Geldautomaten, Bankschalter, Girokonten wären
blank gewesen) und die Metropolengesellschaften wären von einem auf den anderen
Moment in eine einfache Tauschwirtschaft zurückgefallen. Damals wurde zurecht
von einer finanziellen Kernschmelze gesprochen.
Auf dem Höhepunkt der Krise im
Oktober 2008 versprachen deshalb Kanzlerin Merkel und der damalige
Bundesfinanzminister Steinbrück die unbegrenzte Garantie aller Sparguthaben. Allerdings
hätten auch die öffentlichen Haushalte – selbst bei vervielfachter
Schuldenaufnahme – diese Finanzierungskraft nicht gehabt (außen vorgelassen,
wer in einer solchen Situation überhaupt noch öffentliche Schuldtitel gekauft
hätte). Wenn es zu einem Run auf die Banken gekommen wäre, wäre der Staat bei
diesem Garantieversprechen mit in den Abgrund gerissen worden. Es war nicht
mehr als ein gehöriger Pokerbluff der deutschen Regierung, selbst mehr auf der
Hand zu haben als die anderen. Die Panik war den politischen Akteur_innen
damals jedoch ins Gesicht geschrieben. Sie wussten genau, dass wenn der
Geldverkehr zusammenbrechen würde, auch im gesellschaftspolitisch ruhigen
Deutschland die Möglichkeit von Unruhen und Aufständen bestand. Schon deshalb,
weil keiner mehr gewusst hätte, wie die Milch im Supermarktregal bezahlt werden
kann.
Am Beispiel der Bemühungen um den Erhalt der HSH Nordbank (hamburgisch-schleswig-holsteinische Regionalbank, die aus der Fusion der Hamburgischen Landesbank mit der Landesbank Schleswig-Holstein entstanden ist) lässt sich exemplarisch zeigen, wie hilflos die bürgerliche Politik vor, während und unmittelbar nach der Krise agierte. Der damalige Hamburger Finanzsenator Freytag (CDU) erklärte noch im Februar 2009, dass die staatliche Landesbank HSH Nordbank im Kern gesund sei. Die HSH hatte damals eine Bilanzsumme von 250 bis 300 Mrd. Euro, bei einer Eigenkapitalquote von 5 bis 7%. Um die dahinter stehenden Dimensionen zu verdeutlichen: Der Hamburger Haushalt hat eine Größe von 10 Mrd. Euro, wobei alle öffentlichen Haushalte zusammen (u.a. einschließlich der gesetzlichen Krankenkassen und Rentenversicherungen) ca. die Hälfte des Bruttosozialproduktes, d.h. der Wirtschaftskraft eines Landes, ausmachen. Das heißt, Hamburg hatte sich zusammen mit Schleswig Holstein eine Staatsbank geleistet, die mit einem zwanzigfachen Kredithebel (mit Bezug auf die Eigenkapitalquote von 5% wurde für jeden eigenen Euro das Zwanzigfache Kapital zur Spekulation aufgenommen), auf das Dreißigfache des Staatshaushaltes bzw. das Fünfzehnfache der lokalen Wirtschaftskraft spekulierte. In den Jahren vor dem Ausbruch der Finanzkrise ermöglichte dies, direkt und indirekt bis zu dreistellige Millionenbeträge als Gewinn an den Hamburger Haushalt abzuführen. Man träumte auch davon, die Bank profiträchtig an der Börse verkaufen zu können. Finanzsenator Freytag – der sich bis dato in der Öffentlichkeit gerne als gelernter Investmentbanker bezeichnete – und seine Vorgänger von CDU und SPD im Aufsichtsrat der HSH Nordbank hatten nie nach den operativen oder gar systemischen Risiken gefragt, die ihnen über Jahre einen warmen Geldsegen bescherten. Dabei gehört es zum Einmaleins der Kaufmannslehre, dass es keinen Profit ohne Risiko gibt.
Es kam, wie es kommen musste. In
der ersten Hälfte des Jahres 2009 musste die HSH Nordbank durch die beiden
Eignerländer mit frischem Eigenkapital in Höhe von je 3 Mrd. Euro ausgestattet
werden und Hamburg eine Bürgschaft auf eingegangene Risiken der Bank in Höhe von
22 Mrd. aussprechen. Sonst wäre die Bank pleite gewesen und hätte die beiden
Staatshaushalte sofort und endgültig ruiniert und die regionale Wirtschaft
(z.B. Reedereien) wegen der Kreditverflechtungen mit in den Abgrund gerissen.
Der Hamburger Eigenkapitalzuschuss und die Bürgschaft belaufen sich zusammen
auf eine höhere Summe als die insgesamt in 65 Jahren angehäuften Hamburger
Staatschulden in Höhe von ca. 21 Mrd. Euro.
Durch die sinkenden
Steuereinnahmen und gesunkenen Werte der Unternehmensbeteiligungen im Zuge der
Wirtschaftskrise hat Hamburg, das als relativ reiches Bundesland gilt, im Jahr
2009 sein Eigenkapital aufgebraucht und sich somit endgültig überschuldet. Der
Stadtstaat Hamburg gönnt sich seit einigen Jahren eine kaufmännische Bilanz
seiner Vermögenswerte (z.B. Grundstücke, Unternehmensbeteiligungen) und
Schulden (u.a. ausgegebene Staatsanleihen, Pensionsverpflichtungen). So lassen
sich die städtischen Finanzen wie bei einem Privatunternehmen betrachten. Die
Stadt als Privatunternehmen hätte auch unabhängig von der Entwicklung der HSH
Nordbank schon im Jahr 2008 ein Insolvenzantrag stellen müssen. Durch eine
Pleite der HSH Nordbank könnte sich der Hamburger Schuldenberg nahezu
verdoppeln. Neue Staatsschulden müssten mit einer Zinshöhe erkauft werden, die
keine Aussicht mehr auf Rückzahlung der Kredite hätte. Die Staatspleite wäre
final. Die soziale und kulturelle Infrastruktur müsste weitestgehend eingespart
werden, Löhne/Altersversorgungen im öffentlichen Dienst massiv reduziert oder
ausgesetzt werden, die Sozialhilfe als kommunale Aufgabe könnte nicht mehr
bedient werden. Für die Kosten könnte nur der Bund als Ganzes aufkommen. Auch
zwei Jahre später hoffen die Verantwortlichen noch, dass dieser Fall nicht
eintreten möge und die Bank in Teilen wieder profitabel wird, damit die
entstandenen Verluste zumindest teilweise wett gemacht werden können. Die
Risiken, die weiterhin in der Bank stecken, können bis heute nicht abschließend
bewertet werden.
Das Beispiel der HSH Nordbank macht eines ganz deutlich: Es war nicht nur das private, sondern gleichermaßen das staatliche Kapital, das die Spekulationsblase so lange genährt hat, bis sie geplatzt ist.
Welche Entwicklung war der
Finanzkrise vorausgegangen, was hat sie ermöglicht? Mit dem Übergang zum
Postfordismus Ende der siebziger Jahre etablierte sich ein neues Produktions-
und Akkumulationsregime. Die Arbeitsprozesse wurden flexibilisiert und
zunehmend international zusammengesetzt. Deshalb kann Arbeit zunehmend
international in Konkurrenz gesetzt werden. In der Folge ging ab den achtziger
Jahren und beschleunigt in den neunziger Jahren die Lohnquote am
gesamtgesellschaftlichen Einkommen immer weiter zurück, während die
Profitmargen auch auf der Grundlage von sinkender Unternehmensbesteuerung
stiegen. Dies hatte zwei Konsequenzen: Weil die Masseneinkommen sanken, ging
auch der Konsum zurück, so dass sich in verbrauchsnahen Wirtschaftssektoren
weniger Investitionsmöglichkeiten boten. Diejenigen Kapitalanteile, die zur
Erhöhung der Profitrate nicht in die Ausdehnung der jeweiligen Produktion oder
Dienstleistung reinvestiert werden konnten, wurden deshalb überwiegend auf den
Finanzmärkten angelegt, damit, um mit Karl Marx zu sprechen, „Geld neues Geld
heckt“.
Diese Entwicklung wurde durch
staatliche Interventionen noch verstärkt: Die Finanzmärkte wurden seit den
achtziger Jahren zunehmend dereguliert, um Kapital an die jeweiligen nationalen
Börsen zu locken. Internationale Kapitalverkehrskontrollen, insbesondere von
Devisen, Investitionsmitteln und Profiten, wurden aufgegeben. Banken,
Hedgefonds (Finanzvehikel, die jede mögliche Spekulationsform einsetzen, um
überdurchschnittlichen Profit zu erzielen) und Private Equity Fonds (nicht an
den Börsen gelistete Unternehmensverwaltungen) wurden kaum noch reguliert.
Insbesondere die Zentralbank der USA ging ab Ende der achtziger Jahre dazu
über, auf jeden Konjunkturabschwung mit einer Ausdehnung der Geldmenge durch
eine Absenkung der Zentralbankzinsen zu reagieren. Die über die Jahre im Verhältnis
zur Wirtschaftsleistung überproportional ausgedehnte Geldmenge führte bisher
nicht zu einer Inflation, also einer massiven Geldentwertung, begünstigte aber
die Herausbildung von Spekulations- bzw. Preisblasen bei Finanzanlagen. Denn,
wie oben schon geschildert, standen für die kontinuierlich ausgedehnte
Geldmenge keine ausreichenden realen Investitionsmöglichkeiten mehr zur
Verfügung. Dies hatte insgesamt zur Konsequenz, dass im Finanzsektor nahezu
ungebremst Kredite aufgenommen werden konnten, um den Geschäftsrahmen, aber
auch das jeweilige Risiko enorm aufzublähen. Im Gegenzug wurde die
gesamtgesellschaftliche Steuerung des Angebotes von Arbeit und Kapital durch
staatliche Interventionen (wie in Deutschland noch unter der Schmidt-Regierung
u.a. durch die Stützung der Nachfrageseite auf der Basis von
Reallohnsteigerungen) gänzlich aufgegeben. In diesem Sog wurden auch die
Lohnarbeiter_innen durch die zunehmende Privatisierung der sozialen
Sicherungssysteme (Rente, Krankenkasse) gezwungen, über entsprechende private
Versicherungen, die u.a. in Aktien anlegt wurden, ebenfalls die Finanzmärkte zu
befeuern.
Im letzten Boomzyklus ab 2001
wurde die Finanzbranche größenwahnsinnig. Die führenden Investmentbanken (d.h.
Banken, deren wesentliches Geschäftsfeld der Eigenhandel mit Finanzprodukten
ist, die sich also wie überdimensionierte Hedgefonds verhalten) setzten sich
das Ziel, dauerhaft Gewinnmargen bzw. Eigenkapitalrenditen von 25% zu
erreichen. Diese wurde von den Großen und Erfolgreichen der Branche, wie etwa
der Deutschen Bank, auch einige Jahre lang erreicht. Solche Profitraten stellen
jedoch gerade auch unter einem kapitalistischen Blickwinkel eine absolute Abnormalität
dar. Die langfristige Profitrate des Kapitalismus lag in der letzten 150 Jahre
inflationsbereinigt bei durchschnittlich 6%. Die zwischenzeitlich hohen
Profitmargen von Teilen des Finanzkapitals kamen nur auf Kosten weltweit
sinkender Reallöhne und einer zerfallenden sozialen Infrastruktur auf Grundlage
stark gesunkener Steuereinkünfte zustande. Die exorbitanten Gewinne waren auch
Ausdruck eines globalen spekulativen Schneeballsystems, mit dem kurzfristig
Gewinne maximiert und Verluste potenziert in die Zukunft verschoben wurden.
Mit der weitgehenden Verstaatlichung
bzw. Absicherung der Privat- und Staatsbanken der OECD-Länder während der
Finanzkrise wurden die vorangegangenen Gewinne auch für die Zukunft
legalisiert, indem die Eigner_innen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Gleichzeitig wurden durch die staatliche Absicherung die Verluste der letzten
drei Jahre und die noch zu erwartenden Verluste der kommenden Jahre
sozialisiert. Die westlichen Staaten dehnten ihre Schuldenaufnahme erheblich
aus und hoben insbesondere die Verbrauchssteuern, denen alle Bürger_innen
unabhängig von ihrer Einkommenshöhe unterworfen sind, an, um die
Bankenrettungen überhaupt finanzieren zu können. Diese Aktivitäten verhinderten
nicht, dass Island in die Pleite rutschte und Ungarn, Griechenland Irland und
Portugal zur Zeit nur durch finanzielle Interventionen des Internationalen
Währungsfonds (IWF) und der EU vor der sofortigen Pleite bewahrt werden können.
Spanien gilt aufgrund der aktuellen Entwicklung in Portugal ebenfalls als
bedroht, auch wenn es noch keine internationalen Stützungsmaßnahmen in Anspruch
nehmen muss.
2009 schien es noch so, als ob die
westlichen Regierungsapparate und Teile des Kapitals deshalb eine
Re-Regulierung des Finanzsektors durchsetzen wollten. So sollten die
Eigenkapitalanforderungen erhöht (was die mögliche Profitrate verringert
hätte), die absolute Größe der Banken verringert und begrenzt, die
Finanzaufsicht internationalisiert und massiv ausgedehnt, Hedgefonds verboten
sowie Investmentbanken vom Privatkundengeschäft getrennt werden. Mit letzterem
wären Spareinlagen etwas besser geschützt worden, da ein Zusammenbruch von
Investmentbanken dann nicht unmittelbar das Risiko in sich trägt, den
Geldverkehr zu unterbrechen. Diese kapitalkonformen Reformideen wurden jedoch
nicht einmal ansatzweise umgesetzt und es ist auch nicht absehbar, ob dies
zukünftig geschieht. Die aggressive Finanzkapitalfraktion hat wieder
Oberwasser: Die Profite zugunsten der kleinen Klasse der Vermögenseigner_innen
sollen wieder steigen und die bürgerlichen Regierungen lassen sich
offensichtlich mit dem Argument erpressen, dass Regulierungen des
Finanzkapitals dessen kurzfristige Stabilität gefährden würden.
Die Finanzkrise ist deshalb aber
nicht ausgestanden, im Gegenteil. Mit der fortgesetzten Ausdehnung der
Geldmenge durch die US-Notenbank versucht diese, den derzeitigen
Konjunkturabschwung in den USA zu bekämpfen. Die stark überschüssige Liquidität
wird jedoch auch die Bildung von Vermögensblasen beschleunigen, weil ein
Großteil des Geldes nicht in der Realwirtschaft, sondern wiederum in
Finanzvehikel investiert wird.
Dies macht einen erneuten und noch
größerer Zusammenbruch erst der Aktienwerte und dann der Realwirtschaft
wahrscheinlich. Dieses Risiko wird noch erhöht, indem Staaten wie Irland und
Griechenland, trotz der Stützungsmaßnahmen, als Folge der Bankenkrise auf den
Staatsbankrott zusteuern. Die Notkredite der EU und des IWF wurden mit so hohen
Zinssätzen versehen, dass diese dauerhaft nicht bedient werden können, ohne
dass die Staatsverschuldung weiter ansteigt. Gleichzeitig wurde den Ländern
unter dem Diktat von IWF und EU massive Sparauflagen verordnet, wodurch deren
Wirtschaftsabschwung verstärkt wird. In der Folge sinken das
Bruttosozialprodukt und die Steuereinnahmen. Parallel schwindende Einnahmen und
massiv steigende Ausgaben durch die Zinsdienste haben eine Schuldenspirale in
Gang gesetzt, die absehbar in den Staatsbankrott führt. Diese Entwicklung
findet ihren realen Ausdruck an den Finanzmärkten, wo die schon ausgegebenen
Staatsanleihen der vom Staatsbankrott bedrohten Länder massiv an Wert verloren
haben. Neue Staatsanleihen wurden nicht mehr ausgegeben, weil die dafür
notwendigen Zinsaufschläge als Risikopuffer bis zum Doppelten über den
Strafzinsen der EU liegen. Gegenläufig profitierte davon zeitweilig die
Bundesrepublik Deutschland, weil das Anlegerkapital vermehrt Bundesanleihen
nachfragte, so dass deren Zinssätze auf historische Tiefs fielen.
Was motiviert jedoch die
bundesdeutsche Regierung, die ein Drittel der Wirtschaftsmacht des Euro stellt
und damit auch über entsprechenden politischen Einfluss im IWF und der EU
verfügt, eine solche innereuropäische Politik zu forcieren? Die deutsche
Wirtschaft ist extrem auf den Export ausgerichtet. Deutschland hat im
internationalen Vergleich in den letzten Jahren die meisten Waren ausgeführt
und vergleichsweise wenig Waren eingeführt. Diese Exporterfolge sind nicht nur
auf die historisch gewachsene Spezialisierung deutscher Industrien (u.a. auf
hochwertige Konsumgüter wie Autos, Waffenproduktion oder den Maschinen- und
Anlagenbau, der von dem industriellen Aufschwung in den Schwellenländern
profitiert) zurückzuführen, sondern auch auf Reallohnverluste der
bundesdeutschen Arbeiter_innen in den letzten 15 Jahren. Die Gewerkschaften
waren, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr in der Lage, Reallohnsteigerungen
durchzusetzen. Zusammen mit der weiterhin steigenden Produktivität sind deshalb
die Lohnstückkosten gefallen. Dies hat im internationalen Wettbewerb dazu geführt,
dass Produkte „Made in Germany“ nicht nur als qualitativ hochwertig, sondern
auch als relativ preiswert gelten.
Die Exportüberschüsse haben zur
Folge, dass sich andere Länder zulasten der Bundesrepublik verschulden, um
deutsche Waren kaufen zu können. Dies gilt beispielsweise für die USA, aber
auch für die meisten Staaten der EU. Auf dem europäischen Binnenmarkt wird das
relativ starke deutsche Produktions- und Dienstleistungskapital weder durch
Handelsschranken noch durch Währungsschwankungen behindert. In absoluten Werten
hat deshalb in den letzten 15 Jahren kein Land so sehr von der europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion zu Lasten anderer Mitgliedsstaaten profitiert
wie das bundesdeutsche Kapital (nur einige kleinere Länder wie die Niederlande
haben einen noch höheren Exportanteil, fallen jedoch nicht so sehr ins Gewicht).
Die Wirtschaftspolitik der
Bundesregierung ist deshalb zur Zeit von drei Erwägungen geleitet:
Stützungsaktionen gegenüber Griechenland und Irland sollen die deutschen Privatbanken
schützen, die im hohen zweistelligen Milliardenbereich griechische und irische
Staatsanleihen und Schulden von deren Finanzinstituten in den eigenen Büchern
halten. Sollten diese Schuldner_innen ausfallen, wären nicht nur die schon
teilverstaatlichte Commerzbank, sondern auch die bisher noch nicht staatlich
gestützte Deutsche Bank massiv betroffen.
Zweitens wollen die
bundesdeutschen Eliten eine sogenannte Transferunion verhindern. Damit ist
gemeint, dass die überdurchschnittlich konkurrenzfähige deutsche Industrie zwar
vom Binnenmarkt und der gemeinsamen Währung profitieren soll (vielfach mussten
die Konkurrenten in anderen Ländern aufgeben, dort vertieften sich
Deindustrialisierungsprozesse), ein dann fälliger sozialer Ausgleich jedoch
vermieden werden soll. Das Paradebeispiel dafür ist die ökonomische Annexion
der ehemaligen DDR. Deren Industrien wurden durch die westdeutsche Konkurrenz
zerstört. Als Ausgleich bzw. Almosen gab es den Solidaritätsbeitrag für lokale
Infrastrukturprojekte und als mangelhafte Grundversorgung Sozialhilfe bzw.
Hartz IV-Zahlungen. Eine ähnliche Kompensationspolitik, die innerhalb der
Bundesrepublik als nationale Aufgabe verbrämt wurde, soll nun im europäischen
Maßstab vermieden werden, obwohl die negativen ökonomischen und sozialen Folgen
der Expansion des deutschen Kapitals vergleichbar sind.
Und drittens sind sich die
ökonomischen und politischen Eliten in Kerneuropa (Frankreich, Deutschland,
Österreich, Benelux-Staaten) noch nicht einig, was die Staatspleite, sprich
Umschuldung einzelner Länder der EU für die weltweite Position des Euros
bedeuten würde. Grundsätzlich wird das Projekt verfolgt, innerhalb einer
Generation zur globalen Leitwährung US-Dollar aufzuschließen und sich dem
Aufstieg des chinesischen Renmimbi entgegenzustellen. Die Expansion des Euro
hätte u.a. den Vorteil, dass sich der Kreditrahmen der Währung ausweiten würde
(weil in der Folge mehr Euro-Anleihen gezeichnet würden) und Rohstoffe frei von
Währungsschwankungen in der eigenen Währung bezogen werden könnten. Die
internationale Währungsposition des Euro hängt aber nicht nur von der
unmittelbaren ökonomischen Macht ab, also dem Ausmaß des internationalen
Handelsvolumens, das in Euro getätigt wird. Sie ist auch davon bestimmt, welche
Entwicklungsperspektive dem Euro zugeschrieben wird, ob er im Vergleich zum
Wert anderer Währungen steigt, weil die Inflationsrate dauerhaft gering bleibt
und auch zukünftig davon ausgegangen werden kann, dass Schulden von Eurostaaten
in jedem Fall beglichen werden können.
Unter Weltmarktvoraussetzungen macht es, das zeigen die Beispiele von Island und Argentinien, für überschuldete Länder am meisten Sinn, einen Staatsbankrott zu erklären und mit den Gläubiger_innen – wie sonst in Insolvenzverfahren – auszuhandeln, mit welchen Teilrückzahlungen diese auf der Grundlage der wirtschaftlichen Leistungskraft eines Landes rechnen können. In einem solchen Modell wird davon ausgegangen, dass ein wirtschaftlicher Neustart auch für die Gläubiger_innen besser ist, weil nur dieser überhaupt Rückzahlungen ermöglicht. Die EU, geführt durch die Bundesregierung, geht jedoch gegenwärtig den entgegengesetzten Weg. Sie zwingt die betroffenen europäischen Länder zu härtesten, auch sozialen, Einsparungen. Die Folge wird voraussichtlich die ökonomische Strangulierung sein, weil der private Konsum und staatliche Investitionen massiv zurückgehen. Eine solche Strategie, das Ansehen des Euro ohne Leistungen der Kernländer und auf Kosten der hochverschuldeten Peripherieländer retten zu wollen, ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch äußerst riskant.
Aus der so
geschaffenen ökonomischen Situation sind für die hochverschuldeten
EU-Mitgliedsstaaten und damit für die gesamte EU drei mögliche Szenarien
denkbar:
Diese Szenario ist eher unwahrscheinlich, auch wenn
einzelne Mitgliedsstaaten, allen voran die BRD, ein Wirtschaftswachstum zu
verzeichnen haben. Gerade die stark verschuldeten Volkswirtschaften sind durch
die strengen Auflagen zu einer extremen Sparpolitik genötigt, die, weil sie am
härtesten bei den kleinen und mittleren Einkommensschichten zulangt, die
Binnenkaufkraft stark schwächt. Deren Kompensation über den Export ist nur
wenigen Ländern möglich. Die einzige Option, auf dem Exportmarkt stark zuzulegen,
ist, die exportierten Güter konkurrenzfähiger, also günstiger zu machen. Dies
hieße aber stärkere Reallohnsenkungen, die die Binnennachfrage sinken lassen,
so dass das System kollabiert.
Eine hohe Inflation trifft am stärksten die unteren
Einkommensschichten, all jene also, die keine wertstabilen Güter wie
Immobilien, Grundeigentum oder Betriebsvermögen besitzen, da sich die
Lebenshaltung verteuert und kleinere Geld- und Sparvermögen entwertet werden.
Eine hohe Inflation hat immer auch Reallohnsenkungen zur Folge, da die Anhebung
der Löhne, Gehälter und auch Renten nicht in dem Maße der Inflationsrate
erkämpft werden kann.
Im Falle der betroffenen Mitgliedsstaaten der EU
würde dies wahrscheinlich den Ausstieg dieser Volkswirtschaften aus der
Währungsunion bedeuten. Sie würden wieder eine eigene Währung erhalten, deren
Tauschwert neu und niedriger definiert wird. Der Euro würde zusammenbrechen.
Die reicheren Länder würden versuchen, ihre Stabilität zu retten, dabei jedoch
den Wirtschaftsraum EU und damit auch einen Großteil ihres Exportmarktes
verlieren. Wahrscheinlich ist, dass ein Zusammenbruch des Euro in allen
beteiligten Mitgliedsstaaten starke wirtschaftliche Erschütterungen zur Folge
hätte.
Jedes
dieser Szenarien zeigt, dass die Folgen der sogenannten Bankenkrise noch nicht
absehbar sind und dass die weitere Krisenentwicklung in mehr oder weniger
bedrohlichen Bahnen verlaufen kann. Für den Fall einer weiteren Verschärfung
der Krise sehen wir die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eher pessimistisch.
Schon jetzt wird diese Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern auch in
weiten Teilen der Kern-EU (wie auch in den USA) von einem gesellschaftlichen
Diskurs flankiert, der deutlich national-chauvinistischen Töne anschlägt. In
Deutschland sind beispielhaft die „Sarrazindebatte“ oder Pressestimmen zur
Griechenlandkrise zu nennen (… erst
fahren sie ihren Karren in den Dreck und dann stopfen sie die Löcher mit
unserem Geld).
Es steht
zu befürchten, dass im Falle eines ökonomischen Zusammenbruchs, bei dem große
Teile der Geringverdiener, aber auch der unten Mittelstand ihre auch jetzt
schon wacklige Lebensgrundlage verlieren (z.B. durch Arbeitslosigkeit, starke
Einkommensverluste oder Abwertung der Renten), eine Verschärfung dieses
Diskurses stattfindet und autoritäre, repressive und national-chauvinistische
Tendenzen verstärkt wirkmächtig werden.
gruppe commode im April 2011